der fahnenträger...
mario         Vorwort

 

Oskar Just, Der Fahnenträger, 1931

            

Berlin 1941:

An der entgegengesetzten Wand entdecke ich ein grosses Gemälde. Lebensgross ragt vor mir auf ein grosser, blonder Junge dunkel umrahmt vom tiefen Blau seiner Tracht und hinter ihm breitet sich mit Wappen und Zeichen die Fahne seiner Gruppe.

Ich stehe vor dem Bild und um mich versinken Zeit und Raum.

„Tusk, der Revolutionär unter den Bündischen?“ murmle ich vor mich hin, „Jener, den die Zeit fällte, da er sich ihr widersetzte?“                                 Da ist’s als öffneten sich die Lippen dieses Jungen vor der Fahne und die Seele des Bildes löst sich von der Leinwand und geht ein in den Beschauer und führt Zwiesprache mit mir.

„Kennst Du Tusk?“ fragt der junge Fahnenträger, „Ich bin nicht Tusk, ich bin aber einer seiner Gefolgsmannen, der Fahnenträger.“

„Ich kenne nicht Tusk,“ antworte ich und schüttle mit dem Kopf.

„Kannst Du ja auch gar nicht kennen. Das liegt ja auch schon so weit zurück. Du lebst ja in einer heutigen Zeit, einer Zeit, die uns zu Fall brachte.“

„Bewusst ist deine Haltung und das gefällt mir an dir“ sage ich „aber anmassende Reden stehen dir nicht. Wenn Bitterkeit dich gegen irgend ein Geschick erfüllt, so hadere nie als erstes mit der Zeit und ihren Erscheinungen, denn jede Zeit hat Anfang und Ende, hat Sinn und Zweck; denn Zeiten werden geboren aus Lebensnotwendigkeiten – und wie lange ist es denn schon her, dass ihr zu sein aufgehört habt, zu sein in diesem Rahmen, in dem du hier noch vor mir stehst. Du bist eher jünger noch als ich und daher auch aus keiner weiteren Vergangenheit denn ich gekommen.“

„Das mag wohl sein. Doch sieh, es sind nicht die Jahre, die im Leben zählen, die nach dem Laufe von Sonne und Mond sich errechnen, sondern es kommt darauf an, wann man zu leben, bewusst zu leben beginnt. Ich fing sehr früh zu leben an, fand sehr früh eine Lebensaufgabe, einen Kreis in dem und mit dem ich wirken konnte. Du aber lebtest zu jener Zeit noch in dir und suchtest, während ich schon gefunden hatte.“

„Du willst wohl sagen, gefunden zu haben glaubtest“ werfe ich dazwischen.

Ein Schatten huscht über das klare, feine Gesicht des Jungen.

„Gut, wie du willst. Das Leben beruht ja nur auf Glauben. Ich lebte jenen Idealen, die in unserer Fahne verwebt sind, die vor uns wehte. Unerwartet rasch und jäh ging diese Zeit zu Ende und die Fahne und wir mit ihr.“

.....

Stolz blicken die Augen des jungen Fahnenträgers in den sinkenden Winterabend, stolz reckt sich seine schlanke Gestalt vor dem Grau der Fahne und in den blonden, welligen Haaren spielen letzte Lichtstrahlen eines sinkenden Tages. Tatbereit und edelgeformt liegt seine Hand am Gürtel. Und es ist, als blickten plötzlich seine Augen ins weite Rund des Raumes, wo all die vielen anderen Jungen an den Wänden stehen, als warteten sie seines Befehls. Es ist als wär’s ein letzter Appell einer längst vergangenen Zeit.

Dumpfe Trommelwirbel klingen von der Strasse schwach herauf. Draussen marschiert eine neue Jugend.

„Hörst du die Trommeln?“ fragt der junge Fahnenträger, „So klangen unsere auch einmal. Es war eine schöne Zeit. Aber man kann nur eine Zeit ganz leben. Ich dachte nie, dass meine Zeit so kurz sein würde.“

aus: „Der Fahnenträger“ von Karl Groh, Bretagne 1942

          

Wolf-Rainer Rall, genannt 'mario', wird in der großen Zeit von dj.1.11 zu tusks und seines Bundes Fahnenträger. Gemeinsam mit seinen Kameraden aus der Stuttgarter Rominshorte, einer der Freunde ist Haukes Großvater, erlebt er Fahrten und Lager, die Aufbruchseuphorie, die Hochphase und den Niedergang der Jungenschaft. Durch die bewegten Zeiten der Jahre 1929 bis 1933 trägt er in der kurzen Blüte seines Bundes die Fahne voran und nimmt an der legendären Lapplandfahrt teil. Schließlich widmet ihm tusk "die heldenfibel".                Noch ahnen die Jungen nicht das schwere Los, das ihnen von den Erwachsenen wenig später auferlegt werden wird. Der Fahnenträger ahnt nicht, daß er wenig später ein letztes Mal seiner verlorenen Jungenschaft vorangehen wird - er fällt am 1. September 1939 in den ersten Stunden des Krieges als junger Leutnant an der Spitze seiner Aufklärungsabteilung.                                                       Viele werden ihm folgen.

Geblieben ist das bannende Bild, das einen jungen Fahnenträger in der Blüte seiner Jugend zeigt. Geblieben ist die Erinnerung an den Freund des Großvaters. Geblieben ist die Erinnerung an das Schicksal einer verratenen Generation.

Impressum